Aachen. Ein dickes Paket voller Informationen haben die Besucher unseres Tihange-Forums gestern Abend aus dem Aachener Ludwig-Forum mit nach Hause genommen. Die frühzeitige Auseinandersetzung und der sachliche Umgang mit einem so emotionalen Thema wie den belgischen Pannenreaktoren unweit der deutschen Grenze – das ist das Lob an die Akteure in unserer Region, das gestern Abend mehrfach zu hören war.
Doch bei aller Sachlichkeit: Die wissenschaftliche Runde zur Sicherheit der Reaktoren hat die Zuhörer eher beunruhigt zurückgelassen. Offensichtlich fehlen selbst den Experten mangels Transparenz auf belgischer Seite die Informationen, um eine sichere Einschätzung über den Zustand der Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 vornehmen zu können, die von tausenden Rissen durchzogen sind.
Es gibt keine Beweise
Dieter Majer, früherer Leiter der deutschen Atomaufsicht, schilderte, wie die Reaktorsicherheitskommission zu einem anderen Ergebnis als die belgische Atomaufsicht Fanc gekommen ist. Es gebe schlicht keine Beweise dafür, dass die Risse im Reaktordruckbehälter aus der Bauzeit stammen. Es gebe keine Beweise und keine Berechnungen dafür, ob die Risse in einem Notfall dem Druck standhalten würden. „Das ist in Belgien nicht gemacht worden.“ Und: Es gebe keine Beweise, dass die Risse nur von oben nach unten und nicht auch von außen nach innen verliefen – was deutlich gefährlicher wäre. Selbst Majer klang bei der Schilderung dieser Sachverhalte alles andere als ruhig.
Dabei fehlten wichtige Akteure aus Belgien, die an zentraler Stelle für die Vorgänge rund um die belgischen AKW verantwortlich sind. Sie wollten an diesem Abend nicht Stellung beziehen: Der Direktor der belgischen Atomaufsichtsbehörde Jan Bens hatte im Vorfeld schriftlich erklärt, warum er unserer Einladung zum Forum nicht gefolgt ist: Die Fanc sei eine Aufsichtsbehörde, die sich weder in politische noch ideologische Diskussion einmischen wolle. Die Geschäftsführung von Electrabel schlug ohne weitere Angabe von Gründen unsere Einladung aus. Belgiens Energieministerin Marie-Christine Marghem und Innenminister Jan Jambon nannten terminliche Gründe für ihre Absage, sahen sich aber auch außerstande, einen Vertreter zu entsenden.
In Belgien liege sicher seit langem vieles im Argen bei der Sicherheit der Atomreaktoren, sagte Rudi Schroeder, Chefredakteur des Belgischen Rundfunks, auf die Fragen der Moderatoren Réne Benden und Christian Rein, Redakteure unserer Zeitung. Die kürzlich bekanntgewordene Reaktion der Fanc auf den mangelnden Brandschutz in Tihange sei überfällig gewesen. Die gelassene Haltung der Belgier zu den Pannenreaktoren sei ein „Mysterium“ für ihn, sagte Schroeder. Doch in den letzten Wochen sei etwas passiert. „Da formiert sich Widerstand. Da wendet sich was.“
NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) zeigte sich zuversichtlich, dass die Lücke eines Abkommens zur Reaktorsicherheit zwischen Deutschland und den Belgiern geschlossen wird. „Aber wenn man unter Freunden nicht weiterkommt, muss die Chefin ran“, sagte er – und meinte Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Das Thema berührt die Menschen. In der emotional aufgeladenen Fragerunde zum Schluss sagte eine aufgewühlte Zuhörerin: „Ich zittere jetzt noch.“ Auch in den Sozialen Medien drückten Nutzer während des Forums ihre Bedenken gegen die belgischen Atomkraftwerke aus. Unter dem Hashtag #tihange kommentiert zum Beispiel Franca Quecke (@franca_quecke) auf Twitter ironisch die Empfehlungen von Professor Alfred Böcking mit „Jodtabletten, dichte Fenster und Türen, Masken und zwei Wochen Essensvorrat gegen den Super-GAU? Na dann!“
Eine besondere Verabredung hat die Schülerin Sarah Esser seit gestern mit Martin Schulz. Sie meldete sich für das trinationale Bündnis „Schüler gegen Tihange“ zu Wort, das seit langem vergeblich versucht, einen Termin mit dem EU-Parlamentspräsidenten zu bekommen. Martin Schulz sagte ihr nun zu, sie zu unterstützen und das Bündnis nach Brüssel einzuladen. Sie solle einfach nach dem Forum warten. Er werde sofort einen Termin mit ihr ausmachen.
Schulz: Abkehr darf nicht am Geld scheitern – Vom Alemannia-Spiel bleiben 8920,38 Euro
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (Bild, SPD), war eigens aus Brüssel nur zu dem Tihange-Forum unserer Zeitung angereist. Er betonte, dass jeden Tag in Brüssel darüber diskutiert werde, dass die EU mehr Kompetenzen in Energiefragen bräuchte, um gemeinsame Standards setzen zu können. „Doch die 28 Mitgliedsstaaten sind da deutlich anderer Meinung“, sagte er.
Er regte eine gemeinsame europäische Initiative an, um die Versorgungssicherheit der Belgier zu sichern. Eine Abkehr Belgiens von der Atomenergie dürfe nicht am Geld scheitern: „Die EU gibt sehr viel Geld für blödsinnigere Dinge aus, als den Belgiern bei der Umstrukturierung ihres Energiemarktes zu helfen.“ Die Risiken der AKW könnten nicht nur deswegen unterschätzt werden, weil alles andere Geld koste. Der belgischen Regierung müsse verdeutlicht werden, dass die Bürger ihres Landes genauso gefährdet wären, wie die Menschen jenseits der Grenzen.
Der Kassensturz nach dem Tihange-Spiel von Alemannia Aachen ist erfolgt. Laut Geschäftsführer Timo Skrzypski blieben unterm Strich 8920,38 Euro, die für die grenzüberschreitende Initiative „Stop Tihange“ vorgesehen sind. Durch den Verkauf der Tageskarten (18 243) seien 76 651,26 Euro eingenommen worden. Die Versteigerungen der Sondertrikots habe weitere 3753,45 Euro erbracht. Auf der Kostenseite wurden laut Skrzypski 71 484,32 Euro verbucht, die primär für Sicherheitskräfte (etwa 40 000 Euro), Kombi-Ticket der Aseag (etwa 15 000), Verbandsabgaben, Hostessen oder Parkhausgebühren anfielen. Alemannias Ligaspiel gegen den 1. FC Köln II vor knapp drei Wochen hatten 21 100 Zuschauer verfolgt, die je fünf Euro Eintritt gezahlt hatten.
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