Eifeler Zeitung, Marco Rose

Weg mit dem Grauschleier der Geschichte

Vor 75 Jahren brachten US-Soldaten den Deutschen die Freiheit. Der Festakt in Roetgen will erinnern und wachrütteln.

ROETGEN Mit gesenktem Kopf stehen die Schüler der Gemeindeschule Raeren auf der Bühne. Nacheinander treten sie vor, gehen ans Mikrofon und lesen Zitate von Zeitzeugen vor; Menschen, die den 12. September 1944 persönlich erlebt haben, jenen Tag, an dem die US-Army das kleine Roetgen von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft befreite – als erste Gemeinde in Deutschland. Es sind Zitate, die von Angst zeugen, von großer Unsicherheit und auch Hoffnung. Hoffnung auf ein besseres Leben – in Freiheit.

Es sind eindringliche Bilder, die den Festakt zum 75. Jahrestag der Befreiung in Roetgen bestimmen. Und große Worte. Eine symbolische Höckerlinie aus mit grauem Tuch behangenem Holz trennt die Stuhlreihen im Bürgersaal. Den Schülern der Gemeindeschule Roetgen ist es vorbehalten, dieses triste Bild aufzulösen. Sie ziehen die grauen Tücher herunter und legen so die bunten Höcker frei, auf denen in großen handgeschrieben Lettern Worte wie Liebe, Freiheit und Freundschaft und eben Freiheit zu lesen sind – ein schönes, positives Bild, das in viele ernste und angespannte Gesichter ein Lächeln zu zaubern vermag.

Nichts darf sich wiederholen! „Ja, es war eine Befreiung – und zwar eine, für die wir alle bis heute dankbar sind!“

Tim Grüttemeier (CDU)
Städteregionsrat

Den Grauschleier, der sich im Laufe der Jahre über historische Ereignisse zu legen droht, entfernten auch die Festredner des Abends mitunter schonungslos. „Es bleibt wichtig, an diese Zeit zu erinnern; daran, dass in Deutschland ein Regime an der Macht war, das jede Menschlichkeit verachtete und bekämpfte“, sagt NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) in einer Videobotschaft. Der Aachener erinnert an das „Menschheitsverbrechen des Holocaust“ und mahnt: „Nichts davon darf sich wiederholen! Und das sage ich gerade an diesem Tag an die Adresse jener, die heute wieder mit Hass und Hetze auf Minderheiten und ihre politischen Gegner losgehen, mit Worten und Taten, bis hin zu Gewalt und Mord.“ Es bleibe wichtig, an die Befreiung durch die US-Army zu erinnern, die dafür große Opfer gebracht habe. Dies sei eine starke Wurzel der deutsch-amerikanischen Freundschaft. „Frieden ist nicht selbstverständlich; er ist ein Geschenk Europas an uns Deutsche.“

Freiheit? Befreiung? Besatzung? Viel ist in den vergangenen Wochen über diese Begriffe im Ort und darüber hinaus gesprochen worden. Roetgens Bürgermeister Jorma Klauss (SPD) hält sich in seiner Begrüßung nicht daran auf und sagt: „Aus heutiger Sicht empfinden wir große Dankbarkeit für diesen Akt der Befreiung.“ Deutlicher wird Städteregionsrat Tim Grüttemeier, der indirekt auf die Diskussion Bezug nimmt. „Ja, es war eine Befreiung – und zwar eine, für die wir alle bis heute dankbar sind!“, sagt der CDU-Politiker in einer sehr eindringlichen Rede. Natürlich sei Roetgen im militärhistorischen Sinne nicht befreit worden. Aber waren die US-Soldaten deshalb Besatzer? „Eine solche Frage darf man eben nicht militärhistorisch beantworten, sondern muss den Gesamtzusammenhang betrachten. Auch Roetgen war wie alle deutschen Gemeinden fest in der Hand der Nationalsozialisten – einem Regime, das für den Massenmord an den Juden verantwortlich war, das festlegte, was lebenswertes Leben war. Und das einen Angriffskrieg angezettelt hatte, der weltweit Millionen von Menschen das Leben kostete.“

Richteten den Blick auch nach vorne: US-Gesandte Robin S. Quinville (l.) und Bürgermeister Jorma Klauss (SPD). Fotos: Marco Rose

Auch Grüttemeier warnt vor den neuen Rechten. Die Deutschen verdankten den USA den Frieden, die Freiheit und die Fundamente der Demokratie. Eine Demokratie, die auch heute noch verteidigt werden müsse: „Gerade die Wahlergebnisse der AFD in Ostdeutschland dürfen wir nicht als gegeben hinnehmen. Denn diese Partei will ein anderes Deutschland. Wenn es Ziel ist, gegen unsere Demokratie zu arbeiten und gegen das Grundgesetz, wenn völkisches Gedankengut wieder hoffähig gemacht werden soll, müssen alle aufrechten Demokraten gemeinsam gegen eine solche Partei aufstehen.“

Harald Mollers, Bildungsminister der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, zeigt sich angesichts der Erfolge von Nationalisten in ganz Europa ebenso alarmiert. „Mir macht die aktuelle Entwicklung Angst“, gibt der Ostbelgier offen zu. Demokratie sei kein Selbstläufer, sondern müsse wehrhaft sein. Eine Voraussetzung dafür: politische Bildung und Erinnerung an die Vergangenheit. Um dem Verdrängen etwas entgegenzusetzen, seien Feiern wie nun in Roetgen wichtig. „Die größte Lehre aus alledem ist der europäische Gedanke.“

Und wie blicken die US-Amerikaner auf Roetgen? Am heutigen Samstag wird der Heimat- und Geschichtsverein sein Denkmal für die Gefallenen der Weltkriege am Westwall unweit der Dreilägerbachtalsperre einweihen. Es erinnert exemplarisch unter anderem an den US-Soldaten Richard Spencer Burrows, der 1944 in Roetgen von einem deutschen Scharfschützen getötet wurde. Nachfahren des Leutnants besuchen am Donnerstag auch die Feierstunde im Bürgersaal. „Was für ein bemerkenswertes Zeugnis unserer Nachkriegswerte!“, sagt Robin S. Quinville, die stellvertretende US-Botschafterin in Deutschland. 1945 hätten sich nur wenige ein solches Denkmal für die Toten auf beiden Seiten vorstellen können. Die US-Gesandte setzt in ihrer auf Deutsch gehaltenen Rede den Schwerpunkt auf die transatlantischen Beziehungen. Diese seien das Ergebnis der Arbeit von Generationen. „Was wir aus der Zukunft machen, entscheiden wir“, ruft sie den Roetgenern zu. Quinville erinnert daran, dass die Geschehnisse in der Eifel 1944 viele US-Amerikaner sehr persönlich berührt habe. „Unsere Soldaten kamen nach Europa mit einem Ziel im Blick: Europa zu befreien und dem Kontinent eine demokratische Zukunft zu ermöglichen. Ihnen und auch ihren Familien war bewusst, dass das nicht einfach werden würde.“

Doch wie schwer es noch werden würde, ahnte am 12. September seinerzeit noch niemand: Am 6. Oktober 1944 begann schließlich die Schlacht im Hürtgenwald, an die auch Grüttemeier erinnerte. „Heute überwiegt natürlich die Freude über die Befreiung von der NS-Schreckensherrschaft, aber dieser Tag ist ebenfalls ein Tag des Gedenkens an Tausende Menschen, die in der Folge noch ihr Leben lassen mussten.“ Freude und Leid, sie liegen eng beinander. Zigtausende Menschen starben binnen weniger Wochen alleine in der Eifel. Die nächsten Gedenktage werden ihnen gewidmet sein. „Ich hoffe, dass ihr so etwas nicht erleben müsst“, sagt ein Zeitzeuge, der den Krieg als Kind erlebte. Schüler der Gesamtschule Aachen-Brand haben ihn gefilmt, das Video lässt den Abend ausklingen. „Seid vorsichtig! Wehret den Anfängen!“ 

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